Hi Terrier,
Das Jahr geht zu Ende und ich berichte dir von drei Situationen, die ich erlebt habe. Vielleicht kannst du nichts damit anfangen, weil du die Riesen – die Menschen – nicht fürchtest. Bei mir ist das anders.
Es ist Frühling. Du gehst im Wald spazieren. Schnupperst hier und da. Blinzelst in die Sonne. Freust dich am flirrenden Grün. Am Horizont erscheint ein Kollege, der dicht bei Fuß einen Riesen hat. Nicht angeleint. Dir kommt dieser Mensch gefährlich vor. Es ist einer von denen, die gerne Tiere quälen – man sieht es an seinem gewalttätigen Blick, seinen quellenden Stirnadern, seinem Stiefel mit der Eisenspitze. Solche Tierquäler müssen angeleint sein, sagt das Gesetz. Kollege Schäferhund hat eine Leine dabei, das Paar nähert sich. Schäferhund wendet sich zu seinem Begleiter und tut so, als lege er ihm die Leine an. Aber du weißt genau, dass das nicht stimmt. Panik flutet dich, als ihr einander passiert. Du spürst seine Stiefeltritte schon. Ein entsetztes Jaulen will heraus aus dir.
Es ist Herbst. Jagdsaison. In Italien. Du läufst mit der Nase am Boden, aber deine Ohren lauschen aufmerksam. Du hörst kleine Glöckchen klingeln. Das müssen Schafe sein, oder Kühe, oder Ziegen – irgendwo dahinten. Du wirst dich fern halten, denn es ist nicht gut, die Herde durcheinander zu bringen, das weißt du. Der Glöckchenklang kommt näher. Du denkst dir nichts Böses und fühlst dich ganz sicher. Schafe greifen nicht an, Kühe nicht, Ziegen nicht.
Auf einmal brechen die Glöckchenschwinger durch das Gebüsch. Es sind zwei, zwei junge, zwei aggressive Gesellen im rotbraunen Jagdgewand. Schweißfahnder mit angelegten Ohren, blitzenden Eckzähnen und Schaum vor dem Mund. Sie müssen dem Kollegen Jagdhund ausgebüxt sein, der Chef ist nirgendwo zu sehen. Sie werden dich töten, du fühlst es. Du willst dich tot stellen, aber das kannst du nicht. Adrenalin rauscht durch dein Blut, du flüchtest. Aber heissa! Das macht den Riesen Spaß, sie verfolgen dich keuchend und schnappend.
Es ist Winter. Frischer Schnee in einem großen Park. Irgendwo in Deutschland. Zwei langhaarige Riesen mit Fellfüßen stürzen sich in den Schnee, toben und tollen ganz übermütig in der weißen Pracht. Du siehst ihnen zu. Gerührt, weil sie sich so freuen.
„Die finden das groovy“, sagt der Kollege Collie, zu dem sie gehören und grinst begeistert. Die beiden haben dich entdeckt und pflügen durch den tiefen Schnee auf dich zu. Dir wachsen plötzlich alle Beine in den Boden. Du kannst nicht fliehen, die Schneemassen behindern dich. „Die wollen doch nur spielen“, ruft der Kollege und lacht, weil dich ein Zittern überkommt, das du nicht stoppen kannst. Sie springen an dir hoch, weil sie deine Angst riechen, und du möchtest sterben.
Terrier, Freund,
ich weiß nicht, wo das herkommt: diese Angst vor den Menschen. Aber sie ist nun mal da. Ich bin doch eigentlich stärker als sie. Sie haben mir nie etwas getan. Noch nicht. Und – sie sind überall. Im Wald, auf den Wiesen, in der Stadt, in den Parks. Man kann ihnen nicht entkommen. Es ist, als gehöre die Welt ihnen.
Sag deinen Kollegen, sie mögen an mich denken, wenn sie wieder einmal die Leine zu Hause lassen.